Stellungnahme

Positionspapier: Sprachentwicklung der Kinder im Alter von 0-6 Jahren

Hinweis: Dieses Bild ist für den BVKJ e.V. lizenziert und darf nicht bei einer Veröffentlichung in anderen Medien verwendet werden.

Empfehlung des Fachausschusses „Kinder- und Jugendgesundheit“ im BVÖGD e.V. sowie des Ausschusses „Kind, Schule und öffentlicher Gesundheitsdienst“ im BVKJ e.V. 

Sprachentwicklung der Kinder im Alter von 0-6 Jahren

Im Koalitionsvertrag wurde angekündigt, dass eine verpflichtende Teilnahme aller Vierjährigen an einer flächendeckenden Diagnostik des Sprach- und Entwicklungsstands eingeführt werden soll, dass Sprach- und Startchancen-Kitas zusätzlich gefördert und mehr Fachkräfte für die Kitas gewonnen werden sollen.

Wir freuen uns, dass das Thema der Sprachentwicklung von Kindern zunehmend in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit rückt. Der Sprachstand der Vorschulkinder bereitet den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten (KJGD) der Gesundheitsämter sowie dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt:innen (BVKJ) schon seit Jahren große Sorge. Die Anzahl an Kindern, deren Sprachauf­fälligkeiten im Alter von 5-6 Jahren bei den Schuleingangsuntersuchungen auffallen, ist alarmierend.  Hierzu gehören Kinder mit Hör- und Sprachauffälligkeiten, die dadurch grundsätzlich in ihrer Teilhabe gefährdet sind, sowie Kinder, bei denen milieubedingte und soziale Faktoren, wie etwa der übermäßige Umgang mit Medien, zu Auffälligkeiten im Spracherwerb geführt haben (5–9).

Getrennt von den oben thematisierten Entwicklungsverzögerungen ist der nicht ausreichende Erwerb von Deutschkenntnissen bei fremd- oder mehrsprachig aufwachsenden Kindern in den Fokus zu rücken.

Unabhängig vom Bundesland und unabhängig von der Zugehörigkeit zu sozialen Milieus werden in der Regel alle Kinder gesetzlich verpflichtend vor dem Schuleintritt durch den KJGD nach standardisierten Methoden untersucht. Die Daten dieser Vollerhebungen ganzer Jahrgänge dienen u.a. der kommunalen Steuerung von intensivierten Maßnahmen und sind in dieser Form in Deutschland einzigartig. In manchen Bundesländern werden bereits jetzt zusätzlich zu den Schuleingangs­unter­suchungen auch Kinder im Alter von 4 Jahren vom KJGD untersucht, z.B. in Sachsen. In Leipzig zeigten 2024 knapp 40 % dieser Kindergarten-Kinder Sprachentwicklungsauffälligkeiten, die je nach Stadtviertel in der Ausprägung und Prävalenz stark variierten (10). Die Gruppe dieser Kinder deckt sich weitgehend mit den Kindern, die später bei der Schuleingangsuntersuchung (SEU) auffallen. Daraus lässt sich ableiten, dass man die Daten der SEU zur Ressourcensteuerung der Fördermaßnahmen in den Kitas bereits jetzt nutzen kann.

Die KJGDs haben viel Erfahrung, eine hohe fachliche Expertise, arbeiten unabhängig, kennen die Lebenswelten und Sozialräume der Kinder und verfügen über ein modernes Leitbild.  (11).

Die niedergelassenen Pädiater:innen verfügen ebenso über eine hohe fachliche Expertise, sodass sie auf jeden Fall in die weitere Diagnostik/Therapie bei Kindern, die in einem ersten Screening aufgefallen sind, eingebunden werden sollten. Allerdings sind die U8- und die U9-Untersuchungen in den kinder- und jugendärztlichen Praxen nicht verpflichtend und nur in wenigen Bundesländern wird die Nicht-Teilnahme im Jugendamt registriert. Die Nutzung der im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen gewonnenen Daten und Abstimmung zwischen den Jugendämtern, aufnahmebereiten Kindertages­einrichtungen und Praxen ist verbesserungsfähig.

Die Fachausschüsse KJGD im BVÖGD e.V. sowie der Ausschuss „Kind, Schule, und öffentlicher Gesundheitsdienst“ im BVKJ e.V.  bieten an, bei der Ausarbeitung des Konzeptes zur Verbesserung des Sprach- und Entwicklungsstandes von Kindern zu unterstützen.

Die geplante verpflichtende bundesweite Sprachentwicklungsstanddiagnostik der Vierjährigen erscheint auf den ersten Blick eine Verbesserung darzustellen.

Wir möchten jedoch betonen, dass insbesondere die ersten 1000 Tage für die Sprachentwicklung am bedeutsamsten sind (1,2).

Ein präventiver Ansatz, u.a. durch einen Ausbau und die Verstetigung der Frühen Hilfen, durch frühe Sprachförderkonzepte für alle Kinder von 0 bis 6 Jahren in den Einrichtungen sowie bei Tagespflegenden, ist notwendig. Hierzu bedarf es Multiplikator:innen-Schulungen für Tagespflegende und Erziehende, damit diese die alltagsintegrierte Sprachanregung fachgerecht durchführen können.

Weiterhin geben wir zu bedenken, dass länderspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden und individuelle vorhandene Strukturen genutzt werden sollten, falls die Sprachstands-Untersuchungen für Vierjährige flächendeckend eingeführt werden sollen. Dabei ist zwingend zu beachten, dass auch ein Konzept für die Kinder benötigt wird, welche nicht in die Kita bzw. zu Tagesmüttern und -vätern gehen. Es ist notwendig, dass es sich um standardisierte Verfahren handeln muss und dass dazu erhebliche, zusätzliche personelle bzw. zeitliche Ressourcen eingeplant werden müssen.  Weiterhin stellt sich die Frage, ob der Fokus nur auf die Sprachentwicklung gesetzt werden sollte oder auf die gesamte altersentsprechende Entwicklung.

In jedem Fall ist eine Ausweitung der Diagnostik zur Sprachentwicklung ohne eine Ausweitung der versorgenden, sprachanregenden und sprachförderlichen Strukturen nicht sinnvoll und ethisch nicht vertretbar.

Dabei muss auch gewährleistet werden, dass Kinder, die nicht regelhaft eine frühkindliche Bildungseinrichtung besuchen entweder ein verbindliches und konkretes Angebot zum Besuch einer solchen Einrichtung oder alternative Angebote für sprachförderliche Strukturen erhalten.

Es ist nachgewiesen, dass Kinder aus bildungsfernen und sozial belasteten Elternhäusern am meisten von alltagsintegrierter Sprachförderung (z.B. Heidelberger Interaktionstraining (3)) über die gesamte Betreuungszeit in der Einrichtung profitieren (4). Ein Schulterschluss zwischen Eltern und frühkindlicher Bildungseinrichtung ist hierfür entscheidend.

Kinder, die vor der Einschulung Unterstützung beim Erwerb der deutschen Sprache brauchen oder in „Spracharmut“ aufwachsen, dürfen entsprechend der Heilmittelrichtlinien keine Logopädie oder sonstige sozialpädiatrische Sprachförderungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet bekommen. Ein unkomplizierter Zugang zu sprachfördernden Maßnahmen sollte in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen für diese Kinder möglich sein.

Wir empfehlen daher folgendes:

  1. Ausbau und Verstetigung der Frühen Hilfen, um von Geburt an besonders belastete Familien zu unterstützen und präventiv, sprachanregend und gesundheitsfördernd vorzubeugen.
  2. Sicherstellung der diagnostischen und versorgenden Strukturen bei Hörstörungen.
  3. Identifikation besonders belasteter Einrichtungen (z.B. Start-Chancen Kitas) auf Datengrundlage der jährlichen Schuleingangsuntersuchungen, Sozialindizes und in Abstimmung mit den Fachberatungen der Kindertagesstätten.
  4. Erhöhung der Betreuungsschlüssel und Ausweitung der Angebote für Tagespflege und Kitapersonal zur Umsetzung der alltagsintegrierten Sprach- und Entwicklungsförderung – beginnend in den besonders belasteten Kitas (siehe Punkt 3).
  5. Ausweitung der Versorgung durch Sprachpädagog:innen und Sprachheiltherapeut:innen, insbesondere in den unterversorgten Regionen.
  6. Initiierung einer (Medien-)Kampagne gemeinsam mit dem BIÖG, dem BVÖGD und dem BVKJ zur Sensibilisierung der Erziehungsberichtigten, Erziehenden und Tagespflegenden zur Medienabstinenz von Kindern mit dem Schwerpunkt auf die ersten 1000 Tage.
  7. Die Nicht-Teilnahme von Kindern an den Vorsorgeuntersuchungen in den Praxen sollte durch ein geeignetes Einladungs- und Meldewesen deutschlandweit besser erfasst werden.

Literatur:

1.  Thyen U. Die Bedeutung der ersten 1.000 Tage des menschlichen Lebens. Public Health Forum [Internet]. 2025 Jun 1 [cited 2025 Jun 29];33(2):103–5. Available from: www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pubhef-2025-0004/html

2.  Deutsche Akademie Wissenschaften Leopoldina. Frühkindliche Sozialisation- Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven [Internet]. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e.V. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e.V., Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V., Union der deutschen Akademien der Wissenschaften e.V.; 2014 [cited 2025 Jun 29]. Available from: www.akademienunion.de

3.  Zentrum für Entwicklung und Lernen H. www.zel-heidelberg.de. 2025 [cited 2025 Jun 29]. Heidelberger Interaktionstraining. Available from: www.zel-heidelberg.de/heidelberger-interaktionstraining/

4.  Kluczniok K, Grad T, Schneider M, Faas S. Auswirkungen von Kindertagesbetreuung auf die kindliche Entwicklung. 2024 [cited 2025 Jun 20]; Available from: www.paedquis.de

5.  Fritzsche T, Breitenstein S, Wunderlich H, Ferchland L, Potsdam U. Mediale Einflüsse auf die Sprachentwicklung. In: Fritzsche S, Wunderlich H, Ferchland L, editors. Spektrum Patholinguistik 14 [Internet]. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam; 2021 [cited 2025 Jun 20]. p. 31–53. Available from: doi.org/10.25932/publishup-51017

6.  Brushe ME, Dandara ;, Haag G, Melhuish EC, Reilly S, Gregory T. Screen Time and Parent-Child Talk When Children Are Aged 12 to 36 Months Supplemental content. JAMA Pediatr. 2024;178(4):369–75.

7.  Kucker SC, Schneider JM. Social interactions offset the detrimental effects of digital media use on children’s vocabulary. Frontiers in Developmental Psychology. 2024 May 28;2.

8.  Operto FF, Maria G, Pastorino G, Marciano J, De Simone V, Volini AP, et al. Digital Devices Use and Language Skills in Children between 8 and 36 Month. Brain Sci [Internet]. [cited 2025 Jun 29];2020:656. Available from: www.mdpi.com/journal/brainsciBrainSci.2020,10,656

9.  Qu G, Hu W, Meng J, Wang X, Su W, Liu H, et al. Association between screen time and developmental and behavioral problems among children in the United States: evidence from 2018 to 2020 NSCH. J Psychiatr Res. 2023 May 1;161:140–9.

10. Stadt Leipzig, Dezernat Soziales G und VDJS und D. Sozialreport 2024. 2024 [cited 2025 Jun 24]; Available from: www.leipzig.de/sozialreport

11. Ellsäßer G, Korebrits C, Trost-Brinkhues G. Leitbild für einen modernen Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD) in Deutschland: Stellungnahme des Fachausschusses KJGD im BVÖGD. Das Gesundheitswesen. 2020 Dec 21;82(12):947–54.

 

Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ)

Mielenforster Str. 2
51069 Köln
Telefon: 0221 – 68 909 0
E-Mail: info@bvkj.de

Präsident: Dr. med. Michael Hubmann
Referent Gesundheitspolitik: Simon K. Hilber
Telefon: 030 280 475 10
E-Mail: simon.hilber@bvkj.de

Lobbyregister beim Deutschen Bundestag: Registernummer R000638

Kontakt

Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ)
Präsident: Dr. med. Michael Hubmann
E-Mail: info@noSpam.bvkj.de
Internet: www.bvkj.de

Referent Gesundheitspolitik: Simon K. Hilber
Telefon: 030 280 475 10
E-Mail: simon.hilber@noSpam.bvkj.de

Lobbyregister beim Deutschen Bundestag: Registernummer R000638