Standpunkt

Standpunkt Reform der Notfallversorgung

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Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ) begrüßt eine Neuordnung der Notfallversorgung in Deutschland. Die Notfallversorgung, angefangen beim Rettungsdienst, über den vertragsärztlichen Not- und Bereitschaftsdienst bis hin zu den Notaufnahmen, steht vor großen demographischen, medizinischen und gesundheits­ökonomischen Herausforderungen.

Die tatsächlichen medizinischen Bedarfe und der verantwortungsbewusste Einsatz von knappen ärztlichen wie nicht-ärztlichen Ressourcen müssen aus Sicht des BVKJ zur Leitschnur einer Reform werden. Für eine effektivere Nutzung der Ressourcen ist es erforderlich, dass Leistungen nicht mehr bedürfnisorientiert, sondern bedarfsorientiert erbracht werden.

Die Definition eines Notfalls erfolgt heute zu oft allein aufgrund der subjektiven Wahrnehmung des Betroffenen, nicht aufgrund einer objektiven medizinischen Einschätzung des Erkrankungsfalls und der damit einhergehenden Dringlichkeit. Sowohl die ärztlichen Bereitschaftsdienste als auch die Notfallambulanzen sehen in großem Maße Patient*innen, die nicht akutmedizinisch oder notfallmedizinisch versorgt werden müssen. Dadurch sind die Wartezeiten für diejenigen Patient*innen, die tatsächlich dringend auf die Hilfe in der Notfallambulanz und gegebenenfalls eine stationäre Behandlung angewiesen sind, oftmals übermäßig lang. Auch ist das Zeitbudget für den einzelnen Behandlungsfall aufgrund der Überlastung oftmals so gering, dass eine Gefährdung der Patientensicherheit nicht ausgeschlossen werden kann.

Eine Reform ist auch aus Versorgungssicht geboten. Heute ist es so, dass einige Patient*innen fast ausschließlich die Notfallversorgung ansteuern und dort auf beständig wechselnde Bereitschaftsärzt*innen oder Notärzt*innen stoßen. Anders als in den Praxen kann sich hier kein enges und persönliches Arzt-Patientenverhältnis entwickeln.

Die unkoordinierte und übermäßige Inan­spruchnahme der Notaufnahmen und des ärztlichen Bereitschaftsdienstes ist zu beenden. Eine zukunftsorientierte Neuordnung der Notfall­versorgungs­strukturen muss aufgrund der Mangelsituation aller Gesundheitsberufe, insbesondere bei Ärzt*innen, Pflegenden und MFA eine angemessene Zugangssteuerung der Hilfe­suchenden einschließen.

Auch ökonomische Anreize scheinen daher unverzichtbar, um Leistungsempfänger zum verantwortungsbewussten Umgang mit ärztlichen Ressourcen zu incentivieren. Das gilt insbesondere bei einer nichtberechtigten Inanspruchnahme notärztlicher Leistungen.

Ersteinschätzungsverfahren

Der BVKJ fordert die Einführung eines verpflichtenden Ersteinschätzungsverfahrens über die gemeinsame Nutzung der bundesweiten Nummern 116 117 bzw. 112, mit dem die Notfallversorgung einheitlich gesteuert werden soll.

Strukturen einer pädiatrisch fachkompetenten Leitstelle müssen allerdings erst aufgebaut und die Finanzierung muss sichergestellt werden. Die Finanzierungsverantwortung liegt dabei bei den gesetzlichen und privaten Krankenkassen, oder gegebenenfalls im Sinne der Daseinsvorsorge beim Staat.

Das digitale Ersteinschätzungssystem muss dabei auf standardisierte und validierte Algorithmen zurückgreifen, die insbesondere auch die Bedürfnisse der Kinder- und Jugendlichen umfassend abbilden. Bei der Entwicklung und Einführung eines solchen Tools sind unbedingt das Know-how und die Erfahrungen der niedergelassenen Ärzt*innen zentral einzubinden, denn aktuell sind die etablierten Systeme zur Ersteinschätzung für Notfälle bei Kindern noch nicht geeignet.

Dabei sieht der BVKJ vier Behandlungspfade, in die Akutleitstellen verweisen sollten:

  1. Es handelt sich um einen Notfall, der sofort in der Klinik oder im ärztlichen Notdienst behandelt werden muss, bzw. eine stationäre Behandlung in einer Klinik für Kinder- und Jugendliche bzw. Klinik für Kinderchirurgie erforderlich macht.
  2. Patient*in ist dringend behandlungsbedürftig und muss innerhalb der nächsten 24 Stunden gesehen werden – entweder in einer Praxis oder z.B. am Wochenende im ärztlichen Notdienst bzw. einem Integrierten Notfallzentrum für Kinder und Jugendliche (KINZ).
  3. Patient*in ist mittelfristig behandlungsbedürftig, kann aber an die Regelversorgung in den normalen Sprechzeiten der Praxen verwiesen werden; die KV-Servicestellen machen nötigenfalls Angebote zur weiteren Versorgung.
  4. Patient*in ist im Grunde nicht behandlungsbedürftig und bedarf keines ärztlichen Kontaktes.

Ein solcher viergliedriger Behandlungspfad, insbesondere auch die Nichtberücksichtigung im Notdienst, sollte explizit gesetzlich vorgegeben werden.

Aus Sicht des BVKJ hat ein solches System auch den gemeinsamen Tresen im Krankenhaus einzubinden, bzw. ist diesem vorzuschalten. Die Ersteinschätzung muss für den Versicherten verpflichtenden Charakter haben. Die Entscheidung der Ersteinschätzung ist digital zu dokumentieren, so dass ein erneuter Anruf oder die persönliche Vorstellung des Patient*innen in einer Notdienstpraxis zum selben Sachverhalt erkannt werden kann. Gegebenenfalls sind hier auch Zahlungen für die unberechtigte Beanspruchung von medizinischen Ressourcen vorzusehen.

Einrichtung von Integrierten Notfallzentren für Kinder

Der BVKJ begrüßt eine ambulante Notfallversorgung spezifisch für Kinder und Jugendliche, die den Integrierten Notfallzentren für Kinder und Jugendliche (KINZ) zugrunde liegt.

Eine Einrichtung von integrierten Notfallzentren für Kinder und Jugendliche (KINZ) ist aus Sicht des BVKJ nur an Kliniken und Abteilungen für Kinder- und Jugendmedizin sinnvoll, die mindestens die Anforderungen nach Stufe 2 des § 25 (Modul Kinder) der Notfallstufenregelungen des G-BA erfüllen. Dabei sollte regional auf existierende und bewährte Strukturen aus Kliniken mit Portalpraxen und KV-Bereitschaftsdienst aufgebaut und diese erhalten und maßgeblich in ein zukunftsfähiges KINZ-Konzept integriert werden.

Grundbedingung jeder Regelung muss sein, dass die Sicherstellung der Notfallversorgung die vorhandenen personellen Ressourcen der ambulant tätigen Kinder- und Jugendärzt*nnen zugrunde legt. Gleiches gilt für das nichtärztliches Personal, das bereits heute an der Belastungsgrenze arbeitet.

Zumutbarkeitsgrenzen der Dienstbelastung der teilnehmenden niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte, die nicht beliebig vermehrbar sind, dürfen nicht überschritten werden. Im Ergebnis wird man feststellen, dass die Einrichtung eines pädiatrischen KV-Notdienstes an einem KINZ in der Regel nur in Ballungsgebieten realisierbar und nur dort auch sinnvoll ist.

Aus Sicht des BVKJ wäre es zu begrüßen, wenn bereits im Zuge der Gesetzgebung eine Auswirkungsanalyse einerseits zum Bedarf und andererseits zu einer realistischen Einschätzung der vorhandenen ärztlichen Ressourcen und zur Anzahl der KINZ in Deutschland erfolgen würde.

Organisation der Integrierten Notfallzentren

Der BVKJ hält es für dringend erforderlich, dass die zentrale Einschätzungsstelle an den INZ/KINZ nach den gleichen Schemata und Sachlogiken wie die standardisierten Ersteinschätzungsverfahren der Kassenärztlichen Vereinigungen operieren. Andernfalls droht ein solches Angebot das Problem der fehlenden Patientensteuerung zu verstärken.

Hilfesuchende, die mit einem von ihnen als dringend erachteten gesundheitlichen Anliegen selbständig ein Integriertes Notfallzentrum aufsuchen, sind regelhaft an die 116 117 zu verweisen. Dies ist gesetzlich klar zu regeln.

Hilfesuchende bzw. ihre Eltern, die trotzdem in der Ersteinschätzungsstelle landen, sollten unbedingt auf die Regelversorgung verwiesen werden. Sonst läuft eine solche Stelle Gefahr, als niederschwellige Anlaufstation Fehlinanspruchnahmen zu fördern.

Es ist dringend erforderlich, dass eine Verweisung aus den Räumlichkeiten des Integrierten Notfallzentrums heraus auch ohne tatsächliche ärztliche Untersuchung erfolgen kann. Es widerspräche dem verantwortungsbewussten Umgang mit ärztlichen Ressourcen, wenn am gemeinsamen Tresen nicht nach dem Delegationsprinzip auf Basis der Beurteilung einer geschulten Ersteinschätzungskraft in Verbindung mit einem zertifizierten Ersteinschätzungs­verfahren rechtssicher entschieden werden kann. Das essentielle Anliegen, die bedürfnis­orientierte Ansteuerung von INZ/KINZ einzuschränken, würde konterkariert.

Öffnungszeiten

Die Öffnungszeiten der Notdienstpraxen haben sich entsprechend an der örtlichen Verfügbarkeit von Kinder- und Jungendärzt*innen sowie am regionalen Bedarf zu orientieren. Es dürfen insbesondere keine Doppelstrukturen während der Öffnungszeiten von Kinder- und Jugendarztpraxen entstehen. Öffnungszeiten am Wochenende zwischen 9 und 21 Uhr werden in vielen Fällen aufgrund eines Kinder- und Jugendärztemangels nicht zu schultern sein. Die Öffnungszeiten der Erwachsenenmedizin dürfen keinesfalls pauschal auf die Kinder- und Jugendmedizin übertragen werden.

Videounterstütztes ärztliches Versorgungsangebot

Telemedizinische Angebote können unter bestimmten Voraussetzungen die Notfallversorgung verbessern. Sie dürfen jedoch nicht als zusätzliches niederschwelliges Angebot für eine ungesteuerte Inanspruchnahme missbraucht werden können. Es liegen in der Pädiatrie schon umfangreiche Erfahrungen mit Videosprechstunden nach Vorselektion im Rahmen einer Ersteinschätzung vor.

Auch bei der telemedizinischen oder videogestützten notdienstlichen Versorgung muss auf Nicht-Sprechstunden-Zeiten und nicht auf eine 24/7-Versorgung abgehoben werden, um Doppelstrukturen zu vermeiden. In Kernzeiten ist von der 116117 auf die Regelversorgung zu verweisen, so lange kein akut behandlungsbedürftiger Notfall vorliegt.

Nach nach einer obligatorischen strukturierten Ersteinschätzung können in bestimmten Fällen Videosprechstunden einen Bestandteil der zukünftigen Notfallversorgung darstellen. Es konnte gezeigt werden, dass dadurch nicht-erforderliche Arzt-Patientenkontakte in Präsenz in Notdienstpraxen/Notaufnahmen vermieden werden können. Nur bei einem Teil der kinder- und jugendmedizinischen Fragestellungen ist es möglich, diese allein auf einer Video-Einschätzung zu beurteilen. Essentiell ist, dass auch der Zugang zur Videosprechstunde durch die strukturierte Ersteinschätzung gesteuert wird.

Telekonsilien

In der Pädiatrie liegen bereits gute Erfahrungen mit erprobten Modellen der Telekonsile vor. Dabei handelt es sich um strukturierte Arzt-zu-Arzt-Kontakte. Als Beispiele können hier „PaedExpert“ für den ambulanten und die „Virtuelle Kinderklinik Bayern“ für den stationären Bereich dienen. In beiden Fällen können allgemeinpädiatrische Praxen bzw. Kliniken für ihre Patient*innen telemedizinische Expertise von lokal nicht verfügbaren pädiatrischen Spezialisten einholen. Denkbar wäre in einigen Regionen, dass im Rahmen der Notfallversorgung nicht-pädiatrische Ärzt*innen in Notdienstzentren (INZ) dort, wo keine pädiatrische Versorgung vor Ort möglich ist, im Einzelfall per Videokonsil einen Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin hinzuziehen könnten.

Kontakt

Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ)
Präsident: Dr. med. Michael Hubmann
E-Mail: info@noSpam.bvkj.de
Internet: www.bvkj.de

Referent Gesundheitspolitik: Simon K. Hilber
Telefon: 030 280 475 10
E-Mail: simon.hilber@noSpam.bvkj.de

Lobbyregister beim Deutschen Bundestag: Registernummer R000638