Die zunehmende Prävalenz ernährungsbedingter Krankheiten verpflichtet die Politik, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um insbesondere Kinder und Jugendliche vor Krankheiten zu schützen, die sie ihr ganzes Leben lang belasten können. Verhaltenspräventive Maßnahmen allein hatten in der Vergangenheit keinen durchschlagenden Erfolg, deshalb setzt sich der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen für einen Maßnahmenmix ein, der vor allem auch verhältnispräventive Maßnahmen enthält.
- Steuerlichen Maßnahmen, die ungesundes Essen, insbesondere stark zuckerhaltige Getränke, teurer machen, wobei gleichzeitig Gesundes, wie Obst und Gemüse sowie Hülsenfrüchte, günstiger in der Anschaffung für Kinder, Jugendliche und ihre Familien wird.
- Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder und Jugendliche richten.
- Transparenz im Lebensmittlebereich: Existierende Maßnahmen, wie der Nutri-Score, müssen für die Lebensmittelindustrie verpflichtend werden. Produktverpackungen müssen verständlich über den Inhalt aufklären.
- Eine gesunde, für die Schüler kostenlose, Schulverpflegung und Trinkwasserangebote im öffentlichen Raum.
Verhältnisprävention ist nicht als Ersatz, sondern als notwendige Ergänzung zur Verhaltensprävention zu verstehen. Die Zeit für halbherzige Maßnahmen ist vorbei. Es bedarf mutiger, evidenzbasierter politischer Entscheidungen, die die Gesundheit der Bevölkerung und langfristige volkswirtschaftliche Interessen über kurzfristige Gewinninteressen stellen.
Ernährungsbedingte Krankheiten
Energiedichte, nährstoffarme Lebensmittel sind omnipräsent. Sie werden aggressiv vermarktet, besonders an Kinder. Gleichzeitig sind gesunde Lebensmittel oft weniger zugänglich, teurer oder weniger stark beworben. Zucker, Fett und Salz aktivieren Belohnungssysteme im Gehirn , ihr übermäßiger Konsum macht aber krank.
Laut KiGGS Welle 2 (2014–2017) sind in Deutschland 15,4 % der Kinder und Jugendlichen übergewichtig und 5,9 % adipös. Mit dem Alter nehmen die Prävalenzen zu: Übergewicht steigt von 9,0 % (3–6 Jahre) auf 17,4 % (14–17 Jahre), Adipositas von 2,0 % auf 8,5 %. Den höchsten Anteil an Übergewicht haben 11- bis 13-Jährige mit 20,6 %. Zwischen Mädchen und Jungen bestehen dabei keine wesentlichen Unterschiede. Auswertungen der KiGGS-Daten zeigen aber, dass die Prävalenzen von Übergewicht und Adipositas in niedrigen sozialen Statusgruppen deutlich höher ausfallen als in mittleren und hohen sozialen Statusgruppen. Adipositas kann bereits im Kindes- und Jugendalter gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachen und langfristige Folgen bis ins Erwachsenenalter haben. Betroffene Kinder und Jugendliche zeigen häufiger metabolische Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Insulinresistenz als normalgewichtige Gleichaltrige. Zusätzlich können psychosoziale Belastungen infolge von Stigmatisierung hinzukommen. Eine Mehrzahl der Betroffenen bleibt auch im Erwachsenenalter adipös. Im Erwachsenenalter ist Adipositas mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel- und bestimmte Krebserkrankungen sowie mit erhöhter Mortalität verbunden. Schwere Adipositas verkürzt die Lebenserwartung um mehrere Jahre.
- Kardiovaskuläre Erkrankungen: Adipöse Menschen haben ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall:
- Type-2-Diabetes: Das Diabetesrisiko steigt bei Adipositas:
- Krebserkrankungen: verschiedene Krebsarten stehen in direktem Zusammenhang mit Übergewicht (z.B. Speiseröhrenkrebs, Dick- und Enddarmkrebs und Nierenkrebs)
- Diabetes Typ 2 betrifft in Deutschland bereits über 7 Millionen Menschen. Besonders alarmierend ist die Zunahme bei Kindern und Jugendlichen. Mit Diabetes sind eine Reihe von sehr schwerwiegenden Folgeerkrankungen assoziiert.
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind zu einem großen Teil ernährungsbedingt. Sie gehören zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland.
Volkswirtschaftliche Kosten
Die ernährungsbedingten Krankheiten verursachen immense volkswirtschaftliche Kosten. Die direkten Behandlungskosten werden auf rund 50 Mrd. Euro geschätzt, hinzu kommen Produktivitätsverluste durch Arbeitsausfälle und Frühverrentung, sowie höhere Pflegekosten durch eine früher einsetzende Pflegebedürftigkeit. Prävention, selbst wenn sie Geld kosten, würde, wäre immer noch günstiger als die Behandlungskosten.
Verhältnisprävention: Erkenntnisse der Wissenschaft
Die zunehmende Prävalenz ernährungsbedingter Krankheiten wie Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislauf-Erkrankungen macht deutlich, dass individuelle Präventionsansätze allein nicht ausreichen. Welche Maßnahmen zu ergreifen sind, ist bereits seit Jahren bekannt. Das Robert-Koch-Institut hat diese wie folgt zusammengefasst :
Da bereits Kinder im Kita-Alter von Übergewicht und Adipositas betroffen sind und die Prävalenzen mit zunehmendem Alter steigen, sollten präventive Aktivitäten möglichst frühzeitig ansetzen und Heranwachsende in allen Altersgruppen erreichen. Dabei sollten die vielfältigen Faktoren berücksichtigt werden, die mit der Entwicklung von Übergewicht und Adipositas in Verbindung stehen. Insbesondere gilt es, sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen, da diese ein erhöhtes Risiko aufweisen, Übergewicht oder Adipositas zu entwickeln. Einen wichtigen Beitrag hierzu können gesundheitsförderliche Verhältnisse in den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen leisten.
Die Verhältnisprävention im Lebensmittelbereich ist mithin ein unverzichtbarer Baustein einer umfassenden präventiven Gesundheitspolitik. Die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen ist eindeutig, und internationale Erfahrungen zeigen erfolgreiche Umsetzungsbeispiele.
Aus dem Praxisalltag wissen Kinder- und Jugendärzt*innen, dass mit Ernährungsbildung allein nicht alle Familien erreicht werden können. Dies kann nicht nur mit Bildungsferne oder mangelnder Resilienz gegenüber alltäglichen Herausforderungen bei der Ernährung begründet werden, sondern teilweise auch mit sozioökonomischen Unterschieden. Vielfach ist immer noch Ungesundes die günstigere Wahl – Zucker ist billig, gesunde Lebensmittel hingegen sind oft teurer und weniger verfügbar. Bei sozial schwachen Familien könnte Zeitmangel und mangelnde Kochfertigen zu Convenience-Konsum führen. Von Verhältnisprävention werden hingegen benachteiligte Gruppen überproportional profitieren.
Statt Kinder und Jugendliche zu zwingen, gegen die Anfechtungen ihrer Umgebung zu kämpfen, muss die gesunde Wahl die einfachere, offensichtliche und günstigere Wahl sein.
Die Erfahrungen aus anderen Bereichen der Verhältnisprävention zeigen klar: Maßnahmen wie die Einführung von Sicherheitsgurten, Rauchverboten und Steuererhöhungen auf Tabak haben weit mehr Leben gerettet als rein auf individuelles Verhalten zielende Gesundheitskampagnen. Diese Erkenntnis muss nun konsequent auf die Ernährung übertragen werden. Nach anfänglichen Widerständen in Teilen der Bevölkerung haben sie sich nach kurzer Zeit großer Beliebtheit erfreut. Heute wünscht sich eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr, dass in Restaurants geraucht werden darf.
Maßnahmenersteuer
Der Konsum zuckergesüßter Getränke ist als ein zentraler Risikofaktor für die Entstehung von Übergewicht bekannt. Eine Reduktion des Zuckeranteils in dieser Produktgruppe ist daher von besonderer gesundheitlicher Bedeutung. In Deutschland verläuft dieser Prozess jedoch deutlich langsamer als in anderen Ländern.
Länder wie Mexiko, Frankreich und das Vereinigte Königreich haben positive Erfahrungen mit der Besteuerung zuckerhaltiger Getränke gemacht. Studien zeigen Reduktionen im Konsum um 10-20% sowie Gesundheitsverbesserungen in der Bevölkerung.
Auch in Deutschland sollte daher die Einführung einer Herstellerabgabe, die proportional zum Zuckergehalt der Getränke ansteigt, erfolgen. Ein Ersatz von Zucker durch Süßstoffe sollte dabei idealerweise nicht erfolgen. Eine Zuckersteuer auf Getränke ist kurzfristig umsetzbar. Sie wäre auch populär: „Eine Mehrheit der Bürger“ plädiert laut einer Studie des Verbraucherzentrale Bundesverbands für eine Zuckersteuer. Mittelfristig sollte auch die höhere Besteuerung von Produkten mit hohem Zucker-, Salz- oder Fettgehalt erfolgen.
Um die Akzeptanz für eine solche kostensteigernde Maßnahme in der Bevölkerung zu erhöhen, sollten gleichzeitig die Steuern auf Obst und Gemüse sowie Hülsenfrüchte reduziert werden. Grundsätzlich könnte die Mehrwertsteuer bei diesen Produkten auch komplett entfallen. Damit könnte der unzureichenden Aufnahme von Obst und Gemüse entgegengewirkt werden.
Werbeverbote
Die wissenschaftliche Evidenz für eine Regulierung von Kindermarketing ist eindeutig: Werbung beeinflusst das Konsumverhalten und prägt frühzeitig Ernährungspräferenzen. Laut einer Studie der Universität Hamburg sehen Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren täglich durchschnittlich 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel. 92 % der wahrgenommenen Werbung richtet sich auf Produkte wie Fast Food, Snacks und Süßigkeiten. Um Fehlernährung vorzubeugen, empfiehlt die WHO rechtlich verbindliche Werbebeschränkungen , die alle Altersgruppen schützen und sich an Grenzwerten für Zucker, Fett und Salz orientieren. Diese Maßnahmen müssten umfassend greifen – von TV-Spots über Außenwerbung bis hin zu Influencer-Marketing. Konkrete Regulierungsvorschläge wurden in der 20. Wahlperiode auf den Tisch gelegt. Nun ist es Aufgabe der Politik, diese endlich umzusetzen.
Auszeichnung von Produktinhalten
Verbrauchern stehen heute unzählige Produkte zur Verfügung. Sich bei jedem einzelnen Produkt mit den Zutatenlisten und Nährwertangaben auseinanderzusetzen und korrekt zu interpretieren ist für Laien und insbesondere für Kinder und Jugendliche im Alltag unmöglich. Die Interessen der Gesundheit der Bevölkerung müssen eine größere Verbindlichkeit in der Kennzeichnungspolitik spielen.
Die Einführung des Nutri-Score war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Er erlaubt es, schneller vergleichsweise gesündere Produkte identifizieren. Der Score setzt neben messbaren Verbesserungen der Produktauswahl auch Anreize für die Industrie zur Produktreformulierung.
Allerdings ist die Anbringung noch immer nicht verpflichtend. Freiwillige Systeme schaffen Wettbewerbsverzerrungen, da nur Hersteller gesunder Produkte teilnehmen, während Anbieter ungesunder Produkte die Kennzeichnung vermeiden. Das Nutri-Score-System muss daher für alle verpackten Lebensmittel verpflichtend auf der Produktvorderseite angebracht werden.
Neben dem Nutri-Score müssen aber weitere Systeme entwickelt werden, die für Transparenz sorgen. Der Nachteil des Nutri-Scores ist, dass er nur die relative Belastung von Lebensmitteln mit vergleichbaren Produkten einer Kategorie anzeigt. Es braucht daher eine verständliche Inhaltsstoffdeklaration, die einfach und auch für Kinder und Jugendliche verständlich Produkte mit besonders hohen Gehalten an Zucker, Salz oder gesättigten Fetten kennzeichnet.
Schulverpflegung
Täglich nehmen Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland eine Mahlzeit in Schulen, Kitas oder anderen Bildungseinrichtungen ein. Diese Mahlzeiten prägen nicht nur die akute Nährstoffversorgung, sondern formen Geschmackspräferenzen, Essgewohnheiten und die Beziehung zu Lebensmitteln für das gesamte Leben. Soziale Unterschiede in der Ernährung werden durch eine gleichwertige Verpflegung abgemildert.
Noch immer wird aber nicht in allen Kita- und Schulkantinen sichergestellt, dass gesundheitsfördernde hochwertige Mahlzeiten angeboten werden. Die Politik ist daher aufgefordert, verbindliche und wissenschaftsbasierte Qualitätsstandards zu schaffen. Diese sollten auf den DGE-Qualitätsstandards für Schulverpflegung basieren.
Auch werden oftmals weder Kinder noch ihre Eltern eingebunden. Über eine Einbindung findet aber nicht eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema Ernährung statt und Kinder lernen so Lebensmittel, Zubereitung und Nährstoffe unmittelbar kennen, sondern selbst mitgestaltete Mahlzeiten werden eher akzeptiert und weniger weggeworfen.
Weiterhin ist an die Förderung regionaler Beschaffung zu denken: Die öffentliche Beschaffung hat enormes Marktpotenzial. Diese Nachfragemacht kann gezielt für heimatliche regionale Landwirte und Verarbeiter eingesetzt werden. Das hat den zusätzlichen Vorteil von besserem Klimaschutz: Kurze Transportwege und saisonale Küche reduzieren CO2-Emissionen.
Wenn Kindern von Anfang an den Zugang zu einer gesunden, regional verwurzelten und genussvollen Ernährung ermöglicht wird, wird dies einen nachhaltigen Beitrag zur öffentlichen Gesundheit leisten. Das Schulessen wird damit zur täglichen Gelegenheit, Gesundheit, Heimat, Bildung und Gemeinschaft zu verbinden.