Politik & Presse
07.05.2024 Stellungnahme Köln

BVKJ Standpunkte: Patientensteuerung

BVKJ Standpunkte: Patientensteuerung

Das deutsche Gesundheitssystem ist leistungsstark, steht aber auch vor großen Herausforderungen wie dem demographischen Wandel, dem Fachkräftemangel und dem Anstieg chronischer Erkrankungen.

Die medizinische Versorgung in Deutschland steht unter dem Eindruck zunehmender Patientennachfrage einerseits, sowie immer knapper werdender ärztlicher und pflegerischer Ressourcen andererseits. Die Zahl der Behandlungsfälle ist in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gestiegen. Lag sie 2004 noch bei 536 Millionen, liegen sie 2021 schon bei 716 Millionen (1) und steigt weiter. Gleichzeitig ist die Zahl der Arztstunden pro Ärzt*in im Sinken begriffen.

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, ist es notwendig, die Patientensteuerung im Gesundheitssystem zu verbessern. Hierzu muss sich die Leistungsgewährung enger als heute am tatsächlichen Versorgungsbedarf wie auch an der zur Verfügung stehenden Finanzierung orientieren. Auch die Zuweisung von Patienten an die geeignete Versorgungsebene, sei sie ambulant, stationär oder notfallmäßig muss stärker am Bedarf ausgerichtet sein.

Eine bessere Patientensteuerung muss das Ziel haben, Über- und Unterversorgung zu vermeiden, die Effizienz zu steigern und damit auch die Qualität und Patientenzufriedenheit zu erhöhen. Diesem Grundgedanken liegen die nachfolgenden Überlegungen zur Etablierung von Steuerungsmodellen zur Optimierung der individuellen Gesundheitsversorgung zu Grunde.

1. Hausarztzentrierte Versorgung: Lotsensystem
Die Notwendigkeit, die gesundheitliche Versorgung in Deutschland einer stärkeren ärztlichen Koordination zu unterwerfen nimmt aufgrund der Komplexität von Erkrankungen und Behandlungspfaden mehr und mehr zu. Die zunehmend ungesteuerte Inanspruchnahme von pflegerischen und ärztlichen Leistungen hingegen führt unweigerlich zu Termin- und Kapazitätsproblemen.

Aus Sicht des BVKJ ist es sinnvoll, die Rolle des hausärztlichen Sektors für Kinder, Jugendliche und Erwachsene als erste Anlaufstelle und Lotsen im Gesundheitssystem zu stärken. Kinder- und Jugendärzte sowie Erwachsenenhausärzte können die Patienten beraten, behandeln, überweisen oder einweisen, je nach ihrem individuellen Bedarf. Sie können mit ihrem Team auch die Koordination und Kontinuität der Versorgung über die Sektorengrenzen hinweg sicherstellen. Bei der effizienten Patientensteuerung kommt zunehmend der Patientenbetreuung und -beratung durch Medizinische Fachangestellte eine tragende Rolle zu.

Um die qualitätsgesicherte und leitlinienorientierte Steuerung der Versorgung auch in der Pädiatrie zu verbessern, muss es eine Gleichbehandlung der Kinder- und Jugendmedizin mit der Allgemeinmedizin bei den Hausarztmodellen nach § 73 b SGB V geben.

2. Notfallversorgung
Eine zukunftsorientierte Neuordnung der Notfallversorgungsstrukturen muss eine angemessene Zugangssteuerung der Hilfesuchenden einschließen. Sowohl die ärztlichen Bereitschaftsdienste (ÄBD) als auch die Notfallambulanzen sehen in großem Maße medizinisch nicht notwendige Konsultationen.

Die Fehlinanspruchnahmen durch medizinisch nicht notwendige Konsultationen gefährden die Funktionsfähigkeit des Systems der Versorgung von echten Notfällen. Der nachfragebedingte Teil dieses Problems muss bei einer Neugestaltung der Notfallversorgung dringend thematisiert werden. Steuerungsmechanismen zur Vermeidung von Fehlinanspruchnahmen sind zu etablieren. Heute ist es so, dass einige Patienten fast ausschließlich die Notfallversorgung ansteuern, damit bleibt ihnen die Regelversorgung verwehrt und damit die höhere Qualität der Versorgung, die in einem engen und persönlichen Arzt-Patientenverhältnis liegt.

Der Notfallversorgung ist eine verpflichtende Triagierung über die bundesweite Nummer 116 117 bzw. 112 oder den gemeinsamen Tresen im Krankenhaus zuzuordnen. Eine so verstandene integrierte (gemeinsame) Leitstelle (ILS) inklusive einer auch pädiatrisch fachkompetenten telemedizinischen oder digitalen Ersteinschätzungs- und Beratungsstelle (Videosprechstunde) kann ein wichtiger Bestandteil der zukünftigen Notfallversorgung werden. Entsprechende Strukturen müssen allerdings erst aufgebaut und die Finanzierung muss sichergestellt werden. Das ILS zugeordnete digitale Ersteinschätzungssystem muss dabei auf standardisierte und validierte Algorithmen zurückgreifen. Bei der Entwicklung und Einführung eines solchen Tools sind das Know-how und die Erfahrungen der Niedergelassenen zentral einzubinden.

Hilfesuchende bzw. ihre Eltern sollten nach Notwendigkeit unbedingt auf die Regelversorgung verwiesen werden. Sonst läuft eine solche Maßnahme sogar Gefahr, als niederschwellige Anlaufstation Fehlinanspruchnahmen zu fördern.

Dabei sieht der BVKJ vier mögliche Behandlungspfade, in die ILS verweisen sollten. Der Patient ist

  1. ein Notfall, der sofort in der Klinik oder im ärztlichen Bereitschaftsdienst behandelt werden muss.
  2. dringend behandlungsbedürftig und muss innerhalb der nächsten 24 Stunden gesehen werden – entweder in einer Praxis oder z.B. am Wochenende im ärztlichen Bereitschaftsdienst bzw. einem INZ/KINZ.
  3. der Patient ist behandlungsbedürftig, kann aber an die Regelversorgung verwiesen werden; die KV-Servicestellen machen Angebote zur weiteren Versorgung.
  4. der Patient ist im Grunde nicht behandlungsbedürftig und muss nicht an einen Arzt verwiesen werden.

3. Sektorenübergreifende Versorgung
Viele Eingriffe können kostensparend und ohne Qualitätsverlust ambulant durchgeführt werden. Um die Patienten für diese Option zu gewinnen, sollte eine Liste von ambulanten Prozeduren entwickelt werden, die nach internationalen Standards festgelegt sind. Diese Prozeduren werden bei gleicher Qualität, gleich vergütet, unabhängig vom Versorgungsort.

Bei der gemeinsamen regionalen Versorgung durch pädiatrische Schwerpunktpraxen und pädiatrische Schwerpunktambulanzen sollen Patienten optimal durch die Angebotsstrukturen von Behandlungsprozessen und Behandlungsschwerpunkten geleitet werden. Bei der Festlegung der Behandlungsprozesse muss berücksichtigt werden, welche technische und personelle Infrastruktur an welchem Ort verfügbar ist. Die Berufsverbände mit ihren wissenschaftlichen Fachgesellschaften legen für die einzelnen Schwerpunkte die Patientengruppen fest, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung eine ambulante Behandlung durch eine Schwerpunktambulanz benötigen. Pädiatrische Überweisungs¬vorbehalte gewährleisten, dass hochspezialisierte ambulante Angebote für komplex erkrankte Patienten erreichbar bleiben. Die Finanzierung der ambulanten Strukturen muss im Zuge der zunehmenden Ambulantisierung grundlegend gestärkt werden.

4. Ökonomische Anreize
Es ist unerlässlich, dass den im Rahmen unseres solidarisch finanzierten Gesundheitssystems aufgebrachten finanziellen Mitteln ein Optimum an Gesundheit gegenübersteht. Für eine effektivere Nutzung der spärlicher werdenden ärztlichen Ressourcen ist es erforderlich, dass Leistungen nicht mehr bedürfnisorientiert, sondern bedarfsorientiert erbracht werden. Die Patienten brauchen mehr Orientierung und Begleitung, um die passende und effektive Versorgung anzusteuern.

Mit einer stärkeren hausärztlichen Koordination und Steuerung der Patienten in die individuell angemessenen Versorgungsstruktur gehen sowohl Qualitätsverbesserungen in der Versorgung als auch kürzere Wartezeiten einher. Diese Versorgungsverbesserungen werden alleine vermutlich nicht ausreichen, um Patienten zu einer vertragskonformen Inanspruchnahme zu motivieren.

Verbesserte positive ökonomische Anreize scheinen daher unverzichtbar, um Leistungsempfänger zum verantwortungsbewussten Umgang mit ärztlichen Ressourcen zu incentivieren.

Derzeit wird das Konzept der hausarztzentrierten Versorgung nur unzureichend umgesetzt. Dass Patienten grundsätzlich zuerst den Hausarzt aufsuchen, statt ohne Überweisung die Budgets der fachärztlichen Versorgung zu belasten, stellt nicht den Regelfall dar, auch weil systemgewolltes Verhalten nicht belohnt wird.

Bezüglich der Inanspruchnahme von Facharztterminen ohne Überweisung muss es das Ziel sein, dass Patienten zunächst ihren Hausarzt bzw. Kinder- und Jugendarzt aufsuchen und sich von ihm bei Bedarf an den richtigen Experten überweisen zu lassen. Wenn Patienten dauerhaft Facharzttermine nur mit Überweisung wahrnehmen, sollte ihnen ein Bonus gewährt werden. Vorratsüberweisungen sind auszuschließen. Mithilfe der Digitalisierung bestünde heute die Möglichkeit, eine niederschwellige und unbürokratische Lösung zu finden. Für den Einzug der Kontaktgebühren sind die Krankenkassen verantwortlich, diese haben sozialadäquate Regelungen vorzusehen.

5. Gesundheitsbildung
Die Einführung einer koordinierten Patientensteuerung sollte mit Strategien und Maßnahmen einhergehen, die die individuelle Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu verbessern. Dadurch kann die Mitwirkung bei der Steuerung durch die Versorgungsstrukturen durch die Patienten selbst gelingen. Den Umgang mit der eigenen Gesundheit, die Teilhabe, Mitsprache und Selbstbestimmung in allen den Fragen, die die Gesundheit betreffen sind elementarer Bestandteil um gute Entscheidungen für die eigene Gesundheit treffen zu können. Die Verbesserung der Gesundheitskompetenz stellt dabei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar und muss in allen Bevölkerungsschichten und -Altersstrukturen verankert werden. Es sollte darüber hinaus Patienten bei der Online-Recherche zu Gesundheitsfragen das Angebot einer fundierten digitalen Ersteinschätzungs- und Beratungsstelle gemacht werden.

(1) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/75608/umfrage/von-aerzten-behandelte-personen-und-aerztliche-behandlungsfaelle/