Politik & Presse
12.12.2022 Pressemitteilung Augsburg/Köln

10 Jahre Beschneidungsgesetz: Kinder und Jugendliche warten weiterhin auf ihre Rechte!

10 Jahre Beschneidungsgesetz: Kinder und Jugendliche warten weiterhin auf ihre Rechte!

Dem vorausgegangen war ein Urteil des Landgerichts Köln in einem Berufungsverfahren am 7. Mai 2012, das die Beschneidung (Zirkumzision) der Vorhaut eines vierjährigen Jungen, die aus religiösen Gründen mit Einwilligung der sorgeberechtigten Eltern vorgenommen worden war, als rechtswidrige Körperverletzung im Sinne des Strafgesetzbuches darstellt (2). Namhafte Verbände und Organisationen sowie pädiatrische Fachgesellschaften haben sich ausdrücklich gegen medizinisch nicht indizierte Beschneidungen ausgesprochen (3). Auch in den Augen zahlreicher Juristinnen und Juristen verstößt das Gesetz gegen die Grundrechte eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung, negative Religionsfreiheit und den Gleichheitsgrundsatz und „ist mit anderen Worten verfassungswidrig“ (4,5). Eine Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention ist infrage gestellt (6).

Zum wiederholten Mal ziehen wir jetzt anlässlich des 10. Jahrestags der Abstimmung im Deutschen Bundestag zur Neuregelung der Rechtmäßigkeit nicht medizinisch gerechtfertigter Vorhautentfernungen an Jungen Bilanz und fordern die Politik auf, sich endlich den tatsächlichen Konsequenzen des von ihr beschlossenen Gesetzes für die betroffenen Kinder zu stellen. Der Schutz aller Kinder - unabhängig von ihrem Geschlecht - erfordert einen breiten Dialog, der die Rechte der Kinder im Blick hat und sich an der UN-Kinderrechtskonvention orientiert. Kinder sind unsere Zukunft – die Erhaltung ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit und Selbstbestimmung muss uns eine Verpflichtung sein!

An dieser Einstellung und Forderung halten die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ), die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (DGSPJ) und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ) weiterhin fest.

Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ): „Auch zehn Jahre nach dem vom Deutschen Bundestag beschlossenen ‚Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes‘ leben in Deutschland Kinder und Jugendliche mit einer gesetzlichen Situation, die sich konträr zu den Zielen des Gesundheitsschutzes und des Kindeswohls verhält. Es ist dringend an der Zeit, den schon vor fünf Jahren geforderten breiten Dialog aufzunehmen und endlich zu einer Verständigung zu kommen, die das Kindeswohl und den Gesundheitsschutz im Blick hat. Auch an dieser Problematik wird wiederum deutlich, wie wichtig es ist, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern.“

Victor Schiering, Vorsitzender MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene: „Für uns leidvoll Betroffene ist dieses Datum verbunden mit Gefühlen von Ausgrenzung, Demütigung und Machtlosigkeit. Seit zehn Jahren gilt unsere ehrenamtliche Arbeit fachlich fundierter Aufklärung und der Stärkung interkultureller zivilgesellschaftlicher Bündnisse, um für dieses Leid zu sensibilisieren. Es ist höchste Zeit, dass sich Verantwortliche in Politik und Medien einer ‚Kultur des Hinsehens‘ anschließen. Wir brauchen eine respektvolle Debatte auf Augenhöhe, ausgehend von eigentlich sehr etablierten Grundwerten wie Selbstbestimmung und Gleichstellung. § 1631d BGB gehört schnellstens abgeschafft. Unsere Gesellschaft muss sich endlich ehrlich der Herausforderung stellen, das Recht aller Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung uneingeschränkt umzusetzen.

Weitere diese Pressemitteilung unterstützende Verbände und Organisationen:

Prof. Dr. med. Matthias Franz, Psychoanalytiker, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Düsseldorf; Sektion Kinder- und Jugendpsychosomatik der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) e.V.: „Jegliche kindheitliche Erfahrung von Gewalt und Schmerz hinterlässt Spuren – manchmal lebenslang. Der Schutz kindlicher Genitalien vor medizinisch nicht indizierten Verletzungen durch Erwachsene gehört deshalb zu den Entwicklungsaufgaben einer sich in Richtung empathischer Vernunft und Gewaltfreiheit zivilisierenden Gesellschaft. Das sollte in aufgeklärten Demokratien auch für die sexuelle Integrität von Jungen gelten. Religiöse Phantasiesysteme und patriarchalische Traditionen, die auf der Ausübung ritueller Gewalt und der Verletzung der Intimsphäre basieren, werden sich langfristig einer menschenrechtlich bestimmten Diskursperspektive zu stellen haben. Dass dies in der Bundesrepublik Deutschland auch 10 Jahre nach dem vom Deutschen Bundestag beschlossenen ‚Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes‘ im politischen Raum immer noch nicht geschieht, ist aus Sicht des Kinderschutzes beschämend.“

(I)NTACT e.V. Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen e.V., 1. Vorsitzende Christa Müller: „Es ist bedauerlich, dass sich die Parlamente in Deutschland den Lobbyisten beugen und Menschenrechte per Gesetz verraten, indem sie die Beschneidung von Jungen ausdrücklich erlauben. Während man im Ausland die Verstöße gegen Menschenrechte anprangert, ist es hier seit 10 Jahren legal, Jungen ohne ihre Einwilligung unumkehrbar zu verstümmeln. Dieses Gesetz ist ein Skandal!“

TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau e.V. - Sonja Störmer, Referentin im Referat Weibliche Genitalverstümmelung: „TERRE DES FEMMES ist für die Abschaffung jeder Form von Male Genital Mutilation (MGM). Unsere Null-Toleranz-Haltung gegen Female Genitale Mutilation (FGM) gilt für MGM gleichermaßen. Wir sind überzeugt davon, dass wir Kinderschutz nur erreichen können, wenn wir – alle – konsequent und ausnahmslos dazu beitragen, Kinder zu schützen. Kinderrechte sind Menschenrechte und damit universell gültig, unantastbar – für alle Kinder weltweit.“

Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie e.V. (DGKCH) - Prof. Dr. med. Dr. h.c. Maximilian Stehr: „Auch 10 Jahre nach dem vom Deutschen Bundestag beschlossenen ‚Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes‘, leben in Deutschland Kinder und Jugendliche mit einer gesetzlichen Situation, die sich konträr zu den Zielen des Gesundheitsschutzes und Kindeswohls verhält. Zudem ist das Gesetz in sich nicht stimmig. Es erlaubt bei kleinen Kindern die Regeln der ärztlichen Kunst zu verlassen (keine Narkose), obwohl dies im gleichen Gesetz zuvor gefordert wird. Es ist dringend an der Zeit, den schon vor 5 Jahren geforderten breiten Dialog aufzunehmen und endlich zu einer Regelung – besser aber Verständigung zu kommen, die das Kindeswohl und den Gesundheitsschutz für Jungen gleichermaßen wie für Mädchen im Blick hat.“

V.i.S.d.P.:
Victor Schiering
Vorsitzender MOGiS e.V. - Eine Stimme für Betroffene
Postfach 111549
86040 Augsburg

Kontakt:
Dr. Bernhard Stier
E-Mail: bstier@t-online.de
Telefon: 040 - 69604420

Victor Schiering
E-Mail: victor.schiering@mogis-verein.de
Telefon: 0911 - 95344328

(1) https://www.bundestag.de/resource/blob/592406/01f352a72f001d17d5159f603ec5bcc4/WD-9-075-18-pdf-data.pdf
(2) LG Köln Urteil vom 7. Mai 2012 − 151 Ns 169/11, Beck RS 2012, 13647 zitiert nach: https://www.bundestag.de/resource/blob/592406/01f352a72f001d17d5159f603ec5bcc4/WD-9-075-18-pdf-data.pdf
(3) DAKJ Stellungnahme 5 Jahre Beschneidungsgesetz: „Rechtsfrieden zu Lasten von kinder- und Menschenrechten – 11.12.2017
(4) Dr. Ralf Eschelbach (Richter am BGH), Beck’scher Online-Kommentar StGB, 54. Ed. 1.8.2022, StGB § 223 Rn. 9
(5) Prof. Holm Putzke – 5 Jahre Kölner Beschneidungsurteil, https://hpd.de/artikel/ich-bin-sicher-dass-solcher-gewaltakt-gegen-kinder-unserem-grundgesetz-dauer-keinen-bestand-haben-14388
(6) Deutscher Bundestag. Zur Beschneidung von Jungen – Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention - WD 9 - 3000 - 075/18