Politik & Presse
19.03.2021 Stellungnahme Nordrhein / Westfalen-Lippe

Kita, Schule und Kindergesundheit sind Kernthemen unserer Gesellschaft und nicht Spielball von Pandemiepolitikern.

Wenn in einigen Kommunen erneut Schließung von Schulen die erste und einzige Reaktion auf steigende Inzidenz ist , dann ist dies ein fundamentaler Angriff auf die Lebenssituation von Tausenden von Kindern. Der Versuch, die Gesundheit der Menschen im Hinblick auf Corona zu schützen, darf dabei nicht weiter leichtfertig die Gesundheit und die Entwicklung von Kindern gefährden. Der ganzheitliche Gesundheitsschutz der Bevölkerung besteht aus mehr als dem Inzidenzwert der Coronapandemie, er muss auch das Wohlergehen und die seelische Entwicklung von Kindern im Blick haben, die zunehmend unter seelischen Störungen und Beeinträchtigungen der Entwicklung leiden. Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen, die in vielen Berufen im Rahmen regulärer Tätigkeiten, Homeoffice die berufliche Situation auch mit Sozialkontakten aufrechterhalten konnten, verlieren Kinder mit jeder Schließung fast alle Kontakte zu Mitschülern und Mitschülerinnen. Gerade die Kindesentwicklung erfordert aber den Austausch mit Gleichaltrigen, sei es im grundlegenden Spiel im Kindergarten, sei es in der Pubertätsentwicklung, in der wichtige Erfahrungen für das Erwachsenensein erlebt werden. Kluge Pandemiepolitik erfordert daher neben Inzidenzmathematik auch Betrachtung grundlegender gesellschaftlicher und gesundheitlicher Entwicklungen jenseits der Labore und Intensivstationen

Wir fordern daher:
• Kita und Schulschließungen müssen das letzte mögliche Mittel sein und zielgerichtet erfolgen. Wenn Gefahren der Pandemieausbreitung unmittelbar von den Einrichtungen ausgehen, ist eine Schließung als gezielter Eingriff notwendig. Keinesfalls dürfen Kita und Schulen reine Planungsgröße der kommunalen Inzidenzwertsteuerung sein und niemals einfach als ein Element der Pandemiekontrolle gegenüber anderen Öffnungs- und Schließungsschritten abgewogen werden.

• Wir brauchen eine konsequent intelligente Öffnungspolitik für Kindergärten und Schulen und keine zunehmend radikale Schließungspolitik. Politiker, die Schließungen androhen, müssen sich immer fragen lassen, ob alles für sichere Öffnungen getan wurde. Politiker, die Schließungen durchsetzen, müssen sich immer fragen lassen, ob dabei alles für den Erhalt der Gesundheit und der Entwicklungschancen der Kinder getan wurde. Die Verantwortung der Politik, zu wenig geschlossen zu haben und hierdurch die Pandemie befeuert zu haben, darf nicht leichtfertig zu Lasten der nachfolgenden Generationen gehen. Wir fordern die konsequente Umsetzung der vorhandenen Schutzkonzepte (s. S3 Leitlinie "Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“ 8.2.2021), um einen Schulbetrieb auch in Pandemiezeiten mit dem größtmöglichen Schutz für Schüler*innen und Lehrer*innen zu ermöglichen.

• Wir brauchen sinnvolle abgestimmte und ganzheitliche Konzepte, um Bildung und Entwicklung auch in Zeiten der Pandemie maximal zu fördern. Wenn die Politik in der Wirtschaft z.B. den Risikobereich Schlachthof mit einem konsequenten Test- und Sicherheitsstrategie innerhalb kürzester Zeit nach massiven Fehlern und Verfehlungen wieder ermöglicht hat zu öffnen, so ist nicht zu verstehen, dass sich nach einem Jahr Pandemie die Teststrategie in Schulen auf den Versand eines Paketes Schnelltests an jede Schule zur freiwilligen Selbsttestung und das Öffnen der Fenster beschränkt. Wenn in der Luftfahrt oder im Tourismus innerhalb kürzester Zeit Milliardenbeträge verfügbar sind, ist nicht zu verstehen, warum Kindergesundheit und Entwicklungschancen auf Sparflamme gefördert werden oder allenfalls durch konzeptlose Einzelaktionen behandelt werden.

• Das Leben und die Gesundheit der Risikogruppen können niemals mit anderen Dingen abgewogen werden. Die Entwicklung und die Zukunft unserer Kinder als gleichrangiges Ziel aber auch nicht. Die Lebensrealität unserer Kinder nach einem Jahr Pandemie lautet weiter Verzicht zur Sicherung der Gesundheit der Risikogruppen und zwar ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit. Unbestreitbar und tragischerweise haben in der Pandemie sehr viele Menschen ihr Leben verloren. Dies bedeutet unersetzliches Leid und Verlust in jedem individuellen Einzelfall. Es darf aber nicht vergessen werden, dass alle Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit auch ein Jahr kostbare Kindheits- und Entwicklungszeit verloren haben, in denen Lernen, unbeschwertes Spielen und freudiges Erleben von Sozialkontakten kaum möglich war. Dies war notwendig und unvermeidbar, um zunächst das schlimmste in der Pandemie abzuwenden. Da jetzt Impfungen verfügbar und Risikogruppen zunehmend geschützt sind, Wissen gewachsen ist, Teststrategien umsetzbar sind, ist ein pauschales Vernachlässigen von Kinderrechten nicht mehr zu rechtfertigen.

• Impfstrategien müssen nach dem Schutz der Risikogruppen vorrangig auch die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen schützen. Noch sind Impfstoffe nur für Jugendliche ab 16 Jahren verfügbar (Biontec-Pfizer). Gerade diese Gruppe der Jugendlichen steht oft vor wegweisenden Aufgaben im Abschluss der eigenen Bildungslaufbahn. Hierfür benötigen Jugendliche Sicherheit, die auch durch eine frühzeitige Impfung von Abschlussklassen erfolgen kann. Wenn sich jetzt Großunternehmen in Stellung bringen die Belegschaft impfen zu lassen, dann muss schleunigst in Abstimmung mit den Kinder- und Jugendärzten ein Impfkonzept für alle impfbaren Jugendlichen aufgestellt werden. Sobald Studienergebnisse verfügbar sind, muss die Impfung auch auf jüngere Kinder ausgedehnt werden. Ebenso sind die Berufsgruppen im Umfeld der Kinder schnellstmöglich zu impfen, um Kinder größtmögliche Freiheiten ermöglichen zu können. Hierbei sind vermeidbare Verzögerungen aufgrund von potentiellen Risiken der Impfstoffe immer auch vor dem Hintergrund der Entwicklungsrisiken der Kinder zu sehen.

• Kinder müssen gezielt zurück auf einen individuell geförderten Lern- und Bildungsweg geführt werden. Die Spannbreite wie Kinder die Lockdowns und Home-Schooling überstanden haben, ist immens. Die Wiederaufnahme von Kita und Schule erfordert daher neben Verlässlichkeit und Planungssicherheit auch umfangreiche Zeit und Geldmittel für individuelle Erfassung des Lern- und Entwicklungsstandes der Kinder. Schulen und Kitas müssen im notwendigen Rahmen und ohne budgetierte Einschränkungen die Mittel zur Verfügung gestellt werden. Jedes Kind muss die notwendigen Förder- und Unterstützungsmaßnahmen erhalten, die benötigt werden, um an die Zeit vor der Pandemie anknüpfen zu können. Dies gilt ebenso für das Gesundheitssystem, das mit den Einschränkungen von Kassenpolitik und Budgets der aktuellen gesundheitlichen Situation von Kindern oft nicht gerecht werden kann. Die pandemiebedingten Entwicklungsdefizite dürfen jetzt nicht auch noch durch Defizite im Bildungs- und Gesundheitssystem vergrößert werden und die Bildungs- und Gesundheitsungerechtigkeit nicht durch die Möglichkeiten der Elternhäuser verstärkt werden.

Wir hoffen, dass die Politik ob kommunal, landes- oder bundesweit Gesundheit wieder mehr als ganzheitliches Thema aller Bevölkerungsgruppen sehen kann. Kinder- und Jugendärzt*innen stehen als profunde Kenner der Kinder- und Jugendgesundheit jederzeit als Ansprechpartner, als Fürsprecher für Kinder und Jugendliche und Berater der Bildungs- und Gesundheitspolitik zur Verfügung, um die den bestmöglichen Ausgleich der Pandemiefolgen auch für die zukünftige Generation zu erreichen.

Für den BVKJ, Landesverband Westfalen-Lippe

Dr. med. Marcus Heidemann, * Landesverbandsvorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte *

Michael Achenbach, * Pressesprecher des Landesverbandes*

Für den BVKJ, Landesverband Nordrhein

Christiane Thiele, *Landesverbandsvorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte*

Dr. Axel Gerschlauer, *Pressesprecher des Landesverbandes *